Unsere Tipps im Februar 2021

Zwei Familiengeschichten vor ganz unterschiedlichem Hintergrund, eine Frau, die sich ein neues Leben aufbaut, und ein abgehalfterter MI5-Agent: hier unsere Leseempfehlungen im Februar.

Tipp von Lilian Reichmuth
«Die Bagage» von Monica Helfer

Eine Familie am Rand der Gesellschaft wohnt am Rand eines Dorfes im Bregenzerwald. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, muss Josef, der Vater der Familie, in die Armee. Der Kriegszustand ändert alle Gesetze. Die Lokalbehörden bedienen sich der Willkür, Vater Josef kann verdächtig oft in den Urlaub. Die schöne Maria, Josefs Frau und Grossmutter der Autorin, wird schwanger und öffnet die Tür zu Spekulationen, Vermutungen, Anschuldigungen. Fasziniert hat mich das Buch, da Monika Helfer gekonnt Autobiografie und Fiktion zu einem dichten Zeitzeugnis verwebt.

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Krimi-Tipp von Urs Schütz 
«Dead Lions» von Mick Herron

Jackson Lamb hat einen Ruf. Einen nicht besonders guten – schon wegen seines unflätigen Benehmens, seiner nachlässigen Kleidung, seiner vulgären Ausdrucksweise. Aber er verteidigt seine Truppe aus sieben Agentinnen und Agenten wie eine Löwenmutter. Sie sind die «Slow Horses», ausrangierte, in Ungnade gefallene MI5-Agenten. Von Mick Herrons Reihe um den Geheimdienstagenten Jackson Lamb sind seit 2018 drei Bände auf Deutsch erschienen. Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.

Ein Sicherungskasten bei Swindon legt den Pendlerverkehr der Bahn lahm. Im Getümmel um einen Platz im Bus erkennt der ehemalige Spitzel Dickie Bow einen ebenfalls ehemaligen sowjetischen Agenten, der ihn einst gefoltert hat. Er nimmt die Verfolgung auf, kassiert einen Stich mit einer vergifteten Regenschirmspitze und stirbt noch während der Busfahrt. Bows letztes Wort, getippt auf ein uraltes Nokia “mit ungefähr so vielen Funktionen wie ein Flaschenöffner”: Cicadas. Von deren Verhalten leitet Herron seine Arbeitshypothese ab: Sowjetische Schläfer haben überwintert, bald werden sie ans Licht kommen. Nur die «Slow Horses» können ihnen Einhalt gebieten. 

Spione sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren: Mick Herron entmystifiziert die Gentleman-Agenten und kämpft trotzdem weiter für das Gute – schwarz, böse und unterhaltsam. Herron meint, als menschliches Wesen und als Bürger dieses Landes verachte er so gut wie alles, was sich derzeit im öffentlichen Leben abspielt. Aber für ihn mit seinem Hang zur Satire sei diese Lage ein Geschenk.

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Tipp von Christine Burlet
«Bären füttern verboten» von Rachel Elliott

Auf den Dächern des englischen Küstenstädtchens St. Yves taucht eine Frau auf. Will sie sich hinunterstürzen? Nein, es ist Free-Runnerin Sydney, die an den Ort zurückgekehrt ist, an dem sich vor vielen Jahren das Unglück ereignet hat, das ihre Familie seither lähmt. Hier trifft sie Menschen, deren Leben nicht weniger skurril ist als ihr eigenes. Ihre Schicksale verweben sich zu einer tröstlichen Geschichte: über Hilfe, die man nur von anderen bekommt, und darüber, wie man weitermachen kann, wenn die eigene Welt sich nicht mehr dreht. Der englischen Schriftstellerin Rachel Elliot gelingt es, über Trauriges mit Witz und grosser Menschenliebe zu schreiben.

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Tipp von Urs Schütz
«Überbitten», der zweite Teil der Autobiografie von Deborah Feldmann

Deborah Feldman ist die Autorin des Buchs „Unorthodox“, das ihr weltweit zu Berühmtheit verhalf. Sie hatte der jüdischen Gemeinschaft der Satmarer Chassidim in Brooklyn, von ihr klar als fundamentalistisch eingestuft, den Rücken gekehrt. Sie wollte für sich und ihren Sohn ein anderes Leben. 

Im Folgebuch «Überbitten» erzählt sie auf 700 Seiten, wie sie aufs College ging, dort erst mal richtig Englisch lernte, Literatur studierte und erste Freunde fand. In der folgenden Zeit bereiste sie Amerika, um das Land, in dem sie geboren wurde, besser kennen zu lernen. Später unternahm sie erste Reisen nach Europa, nach Frankreich, Deutschland, Ungarn, Spanien, sogar nach Israel. Sie wollte wissen, wo ihre Vorfahren zu Hause gewesen waren und wo Teile ihrer Familie im Holocaust vernichtet wurden.

Nach sieben Jahren findet sie mit ihrem Sohn in Berlin eine neue Heimat. Sie lernt Deutsch. Sie forscht nach ihren Vorfahren, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. 

«Unorthodox» bezieht seine Spannung vor allem aus der Darstellung des jüdischen Lebens in einer orthodoxen Gesellschaft und dem Verlassen derselben. In «Überbitten» geht es um eine «Lebensmitschrift», um die Entwicklung der Person: Was bewegt sie? Wie nimmt sie das reale Leben wahr? Was denkt sie? Wie kann sie überleben? Wie definiert sie neu ihre Identität, ihre Herkunft und ihren Glauben? Ein spannender Prozess, der den Lesenden aber einiges an Ausdauer abverlangt. 

Nebenbei: Es ist sicher von Vorteil, wenn man zuerst «Unorthodox» liest. So hat man die Grundlagen, auf denen «Überbitten» aufbaut.

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