Keine leichte Kost: Armut in Brasilien, Pro und Kontra der Jungbrunnenpille, Korruption im US-Justizsystem sind nur einige der Themen, welche unsere Tipp-Bücher reflektieren. Aber warum lesen, wenn nicht um nachzudenken?
Tipp von Christine Burlet, Leitung Mediothek
«Die Stadt der Anderen» von Patrícia Melo
In der schmutzig schillernden Metropole São Paulo, zur Amtszeit Jair Bolsonaros. Auf der Praça da Matriz kommen jene zusammen, die keinen Ort mehr haben: der Tagelöhner Chilves, seine Jessica mit den grossen Zukunftsplänen, der kleine Dido mit seinem Hundewelpen, der Totengräber Douglas, unfreiwilliger Komplize bei der Entsorgung getöteter Obdachloser, oder auch die Transsexuelle Glenda, die sich auf dem Weg zu einem besseren Leben wähnt. Trotz aller Härte entsteht zwischen den Gestrandeten eine unerwartete Gemeinschaft. So versuchen sie zum Beispiel, ungenutzte Gebäude selbstverwaltet zu bewohnen und scheitern an der Härte und Korruptheit der Regierung.
In einer packenden Mischung aus Krimi und Milieustudie nimmt uns die Autorin mit in eine Welt, die ganz anders ist als unsere. Melo verknüpft die Geschichten der verschiedenen Protagonisten geschickt und schafft so zwischen hoffnungsloser Tragik auch Momente des Glaubens in die Solidarität und den Überlebenswillen.
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Tipp von Lilian Reichmuth, Ausleihteam
«Wir werden jung sein» von Maxim Leo
Vier herzkranke Menschen: ein Jugendlicher, kurz vor seinem ersten Sex; eine Frau, die verzweifelt Mutter werden will; ein greiser Immobilienpatriarch; und eine ehemalige Spitzenschwimmerin. Ihre Heilungschancen sind aussichtslos. Also schlucken sie ein noch nicht erprobtes Medikament. Der Wirkstoff schlägt nicht nur sofort an, er hat auch eine interessante Nebenwirkung: Er macht die Probanden biologisch jünger.
Die Protagonisten sind perfekt gewählt und geben interessante Einblicke in ihr Innenleben. Wie gehen die Probanden damit um? Der 80-jährige, kerngesund, meint «Man muss sich ständig neu erfinden, um an der ständigen Wiederholung nicht zu verzweifeln. Oder soll ich mich eines Tages bei bester Gesundheit umbringen, weil ich nicht den Mut habe, etwas Neues zu wagen?»
Was heisst das für die Weltbevölkerung? Müssen Junge auf Kinder verzichten, weil die Alten keinen Platz machen? Dürfen Reiche länger leben als Kranke und Arme? Der Traum von der ewigen Jugend wird eines Tages wahr werden. Würden Sie die Pille schlucken, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten? Der Roman geht diesen Fragen auf unterhaltsame und geistreiche Art nach.
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Tipp von Christine Burlet, Leitung Mediothek
«Die hängende Säge» von Alice Schmid
Als Lilly aus dem Sportlager zurück in ihr Bergdorf am Napf kommt, ist sie verstummt. Alle sind ratlos, und sie wird als Au-pair nach Belgien geschickt. In dem von Nonnen geführten Kinderheim trifft sie auf afrikanische Mädchen, darunter auf Francine, die nachts Radio Kinshasa hört und ihre Freundin wird. Während Lilly auf Französisch die Sprache wiederfindet, wird ihr klar, was der Sportlehrer mit ihr gemacht hat.
«Die hängende Säge» ist ein Buch über das Abnabeln. Weil die Geschichte in den 70-er Jahren spielt, spiegelt Lillys Weg zur Selbstbehauptung auch die damalige Zeit der Emanzipation. Lilly merkt, dass sie den vorgesehenen Weg in ihrem Heimatdorf (Lehrerin, Heirat) nicht gehen will und findet nach und nach ihren eigenen Pfad. Das ist in dem kurzen Buch wunderbar dicht, eigenständig und bildhaft beschrieben. Die Autorin, Alice Schmid, ist in erster Linie Dokumentarfilmerin und u.a. bekannt für den Kinofilm «Die Kinder vom Napf». Mit der «hängenden Säge» fügt sie ihrem Werk über Kindheiten rund um den Globus ein weiteres Kapital hinzu.
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Jugendbuch-Tipp von Magdalena Forno, Nutzerin Mediothek Lachen (9 Jahre)
«Die aussergewöhnlichen Fälle der Florentine Blix – Die Rache des Seesterns» von Alice Pantermüller
Für alle, die das Lotta-Leben lieben und nun Lust haben auf dickere Bücher der gleichen Autorin: Florentine Blix ist 13 und wird nach der Schule zur Kriminalpolizei gehen. Doch schon jetzt löst sie erfolgreich Kriminalfälle. Dabei hat sie Hilfe von ihren Freunden Bo und Maja. Letztere umgibt allerdings auch ein grosses Geheimnis, das aufgeklärt werden will.
„Die Geschichte ist witzig illustriert und vor allem in der zweiten Hälfte so spannend, dass ich es nicht mehr weglegen konnte. Gott sei Dank habe ich Mama erzählt, dass man in diesem Buch ganz nebenbei noch ein wenig Dänisch lernen kann. So hat sie mich länger aufbleiben lassen – sonst hätte ich es heimlich unter der Bettdecke fertiglesen müssen.“
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Thriller-Tipp von Urs Schütz, Mitglied Mediothek
«Seven Days» von Steve Cavanagh
Staatsanwalt Randal Korn im Südstaat Alabama hat mehr Menschen auf den elektrischen Stuhl geschickt als jeder andere Staatsanwalt in Amerika. Und er geniesst es, bei Hinrichtungen zuzusehen. Sein nächstes Opfer: Andy Dubois, ein junger Afroamerikaner, der wegen des Mordes an einem weissen Mädchen zum Tode verurteilt werden soll. Korn und seine Gehilfen haben bereits alles für einen möglichst kurzen Prozess vorbereitet. Doch er hat nicht mit Eddie Flynn gerechnet. Dem gerissenen New Yorker Anwalt und seinem Team bleiben sieben Tage, um Andy vor einer korrupten Justiz zu retten und den wahren Täter zu finden.
Zitat aus ‘The Times’: «Nach den ersten Seiten hängen Sie rettungslos am Haken. ›Seven Days‹ treibt einem den Schweiss auf die Stirn, und die grandiosen Gerichtsszenen übertreffen sogar John Grisham.»
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«Und alle so still» von Mareike Fallwickl
An einem Sonntag im Juni gerät die Welt aus dem Takt: Frauen liegen in stillem Protest auf der Strasse. Hier kreuzen sich die Wege von Elin, Nuri und Ruth. Elin, Anfang zwanzig, eine erfolgreiche Influencerin, der etwas zugestossen ist, von dem sie nicht weiss, ob es Gewalt war. Nuri, neunzehn Jahre, der die Schule abgebrochen hat und versucht, sich als Fahrradkurier, Bettenschubser und Barkeeper über Wasser zu halten. Und Ruth, Mitte fünfzig, die als Pflegefachkraft im Krankenhaus arbeitet und deren Pflichtgefühl unerschöpflich scheint.
Mareike Fallwickl wirft eine einfache Frage auf: was geschieht, wenn Frauen nicht mehr das tun, was sie immer getan haben? Was, wenn niemand mehr die Carearbeit übernimmt? Die Stärke des Romans besteht in der Zeichnung vielschichtiger Figuren, die einem sofort ans Herz wachsen. Liebend gern hätte ich mehr über Ruth, Nuri und Elin gelesen und erfahren, wie es ihnen weiter ergeht. Leider beleuchtet der Roman nur eine kurze Phase dieses Protests und zeichnet die Problematik manchmal in ärgerlichem Schwarzweiss. Dennoch: die Frage nach dem Wert von Carearbeit bleibt brandaktuell und die drei Protagonisten, insbesondere Ruth und Nuri, vergisst man so schnell nicht wieder.
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